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Horst Alexander 

Er war ein Jude, der aus Deutschland vertrieben wurde...

Vor nahezu 60 Jahren ... es scheint als wäre es gestern gewesen...

 

Es ist Anfang Dezember, 1946. Ich bin ein deutscher Kriegsgefangener, und zu dieser Zeit stationiert in einem kleinen Lager mit etwa 120 ehemaligen Soldaten der deutschen Wehrmacht. Clatterbridge ist der Name des Ortes, in der Nähe von Bebington, Wirral, England.

 

Weinachten steht vor der Tür, und irgendwie schleicht sich sogar unter den hartgesottenen Soldaten eine bestimmte Art von Geschäftigkeit ein, manchmal mit einer lustigen Art und Weise von Geheimniskrämerei. Jeder im Lager scheint über etwas nachzudenken, von dem er hofft, es wäre eine erfreuliche Weihnachtsüberraschung für irgendjemanden. Keine leichte Aufgabe, wenn man die Umstände bedenkt. Natürlich waren unsere Gedanken mehr und mehr bei unseren Lieben daheim, die wir jahrelang nicht gesehen hatten.

 

Das Leben in einem Gefangenenlager ist ziemlich trübsinnig. Wie dem auch sei, die sonntäglichen Ausflüge in das kleine Städtchen Bebington wurden eine angenehme Abwechslung. Nach und nach wurden wir vertraut mit den Wegen durch die Stadt. An der Hauptverkehrsstraße, die in die Stadt führte, lagen auch die Gemeinderäume, an denen wir vorbei mussten, wenn wir in die Stadt gingen. An der Hauswand dieses Gebäudes war in großen Buchstaben der Name „Bethesda“ deutlich sichtbar angebracht. Dieser Name sagte mir zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Außerdem mochte ich es, in das Museum von Port Sunlight zu gehen, das wie ich glaube, Lord Leverhume gehörte.

 

Eines Tages schlenderte ich durch das Museum und betrachtete die dort ausgestellten antiken Möbelstücke usw. - da war ein Bett, in dem angeblich Napoleon geschlafen haben soll - als plötzlich ein Paar Flügeltüren von zwei Angestellten geöffnet wurden, und Lord Leverhume persönlich den Raum betrat. Für mich sah er aus wie das Bild eines Aristokraten, obwohl ich zuvor noch nie einen gesehen hatte. In dem Moment, als er den Raum betrat, war ich der einzige Besucher und ich wusste einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich beobachtete aufmerksam die Angestellten, die sich immer wieder verbeugten, wenn sie seine Fragen über die Ausstattung des Raumes beantworteten, und in meiner Verwirrung ahmte ich einfach die Angestellten nach, indem ich mich auch einige Male verbeugte.

 

Zu dieser Zeit war ich ein junger Bursche von 19 Jahren, erkennbar gekleidet in die Uniform eines Kriegsgefangenen und mag bestimmt auch für Lord Leverhume etwas fremdartig ausgesehen haben. Was mich betraf, fühlte ich mich jedenfalls fehl am Platz in seinem Museum. Als ich das Museum verließ, sah ich sein Auto am Haupteingang - einen grünen RR -. Es war der erste RR, den ich in meinem Leben sah. So interessant und manchmal erfreulich diese Ausflüge gewesen sein mögen, irgendwie schlich sich zunehmend ein bedrückendes Gefühl ein. Zu dieser Zeit konnte man fast täglich die schreckenerregenden Berichte über die Zustände in den deutschen Konzentrationslagern lesen. Wenn wir durch die Straßen von Bebington gingen, waren wir natürlich für jeden als ehemalige deutsche Soldaten zu erkennen. Jedoch, soviel ich mich erinnere, sind wir nie belästigt worden.

 

Jahre später, als Kriegsgefangener in England, hatte ich mehrere Begegnungen mit jüdischen Personen, die ich alle als „von Gott gegeben“ beschreiben möchte und deshalb mit als die Erfreulichsten und wichtigsten Kontakte in meinem Leben bezeichne.

 

Zunächst möchte ich jedoch von jener Einladung berichten, die von der Bethesda-Gemeinde in Bebington an uns Kriegsgefangene im Lager Clatterbridge erging.

 

Es war Weihnachtszeit und so wurden wir zu Kaffee und Kuchen in den Räumen der Bethesda-Gemeinde für den 27. Dezember 1946, 17,00 Uhr (es war ein Freitag) herzlich eingeladen. Initiator dieser Einladung war ein Mr. Benigson, Mitglied dieser Gemeinde. Keinem von uns war die Gemeinde, noch Mr. Benigson bekannt. Um unsere Bewirtung organisieren zu können, sollten sich jene, die kommen wollten, bei unserem Lagerschreiber melden.

In unserem tristen Gefangenenleben war diese Einladung nicht nur eine große Überraschung, sie löste auch einige Diskussionen unter uns aus. Für nicht wenige im Lager roch die Einladung nach einem Versuch, uns religiös zu beeinflussen. Nichtsdestoweniger, elf Gefangene, mich eingeschlossen, meldeten sich an.

 

Der oben erwähnte Freitag kam, und als wir in letzter Minute den Gemeindesaal betraten, waren alle Plätze - zu unserer großen Überraschung -belegt. Tatsächlich waren annähernd 80 Gefangene der Einladung gefolgt, d. h. über 70% aller Insassen des Lagers waren gekommen. Das Erstaunen hierüber bei den elf Gefangenen, die sich ordnungsgemäß vorher gemeldet hatten, war nicht gering.

 

Eine weitere, sehr bemerkenswerte Überraschung für uns war die Reaktion der Gemeindeglieder auf die unerwartet große Anzahl der sich eingefundenen Gäste. Sehr schnell wurden zusätzliche Tische und Bänke, ebenso Tassen und Teller aufgestellt, und in kürzester Zeit konnte jeder Platz nehmen. Allgemein stellten wir fest, dass diese Christen solch eine Freudigkeit und Offenheit ausstrahlten. Sie schienen alle diese freudige Art zu haben, und Ihre Haltung uns gegenüber war etwas, was wir nicht erwartet hatten. Wir wurden gebeten deutsche Weihnachtslieder zu singen. Es wurden jede Menge Kaffee (nicht Tee) und Kuchen gereicht. Von unseren Gastgebern wurden kurze Ansprachen gehalten, in denen wir immer wieder auf die Liebe Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus hingewiesen wurden.

 

Diese Botschaft war für die meisten von uns, mich eingeschlossen, auf keinen Fall etwas, wovon wir noch nie gehört hatten. Aber die Art und Weise wie alles vorgetragen wurde, das persönliche Engagement, die Wärme und die Liebe dieser Menschen, die vor nur einer Stunde völlig Fremde waren, versetzte die Mehrzahl von uns in großes Staunen. Bei der Schilderung der Situation in diesem Gemeindesaal sollte man bedenken, dass wir eine Gesellschaft von mehr oder weniger hartgesottenen Männern waren, die jahrelang hinter Stacheldraht leben mussten und nun plötzlich in einem englischen Gemeindehaus, an für sie gedeckten Tischen saßen. Wir wurden bedient von sehr freundlichen Menschen, die nur zwei Jahre zuvor unsere Feinde in einem furchtbaren Krieg waren. Wir fragten uns, von wem erhalten sie die Kraft, die es ihnen ermöglicht, auf diese Art und Weise mit uns umzugehen?

 

Nun eine weitere Tatsache, die jeden einzelnen von uns erschütterte: Jener Mr. Benigson war Jude, ein Ingenieur, der in Hamburg eine Firma für elektrische Geräte besaß. Er war ein Jude, der aus Deutschland vertrieben wurde.1938 sind er und seine Frau aus Deutschland vertrieben worden, weil er ein Jude war. Einige seiner Verwandten sind in deutschen Konzentrationslagern ermordet worden. 1946 waren einige Familienmitglieder noch auf Vermisstenlisten verzeichnet. Oder jene Begebenheit, bei der ich selbst Augenzeuge war: Mr. Benigson umarmte einen von uns sehr herzlich. Dieser junge Mann war gebürtiger Hamburger, und durch seinen Dialekt erkannte ich Mr. Benigson als einen Landsmann aus Hamburg. Auch hier wieder meine Frage: Woher die Kraft, diesem fremden Mann auf diese Art und Weise zu begegnen, der zu einem Volk gehörte, das unbeschreibliches Leid über die Juden gebracht hatte?

 

Auf dem Rückweg zum Camp entstand eine angeregte Diskussion über das an diesem Nachmittag Erlebte. Heute noch, obwohl es nahezu 60 Jahre her ist, erinnere ich mich genau an diese Stunden. Ich war nassgeschwitzt und fast den ganzen Weg zum Lager, ein Weg von über dreiviertel Stunden, zitterte ich am ganzen Körper. An der Diskussion beteiligte ich mich kaum. Ich glaube, ich war derart erregt, dass mir eine Beteiligung am Gespräch nicht möglich war.

 

In der folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. In diesem Moment meines Lebens war mir die Tatsache nicht bewusst, dass ich irgendwie mit der Liebe des Sohnes Gottes konfrontiert worden war. Von der Haltung dieser Menschen war ich fasziniert und versuchte herauszufinden, wodurch sie im Stande waren, natürliche menschliche Reaktionen zu überwinden.

Von nun an besuchte ich nicht nur die Zusammenkünfte am Sonntagmorgen in Bethesda Hall, sondern ich ging auch zu den Bibel- und Gebetsstunden der Woche. Sehr schnell begriff ich, dass Bethesda in Bebington eine Versammlung war, wo die „Offenen Brüder“ sich regelmäßig trafen. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, was „Brüder“ waren. Ich merkte aber sehr schnell, dass alle Glieder dieser Gemeinschaft eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus hatten und dass sie um die Vergebung ihrer Sünden wussten.

 

Für mich war es wie ein Wunder, das sich bei diesen Christen etwas entwickelt hatte, das so anziehend war. Auf der anderen Seite war da mein Stolz, der es mir nicht erlaubte, mich solchen Vorstellungen wie Vergebung, Gnade oder Barmherzigkeit zu unterwerfen.

 

Vor über einem Jahr bereits beschäftigte ich mich mit der Gedankenwelt einiger deutscher Philosophen. In Deutschland hatte die nationalsozialistische Idee Schiffbruch erlitten und mit ihr alle meine Ideale. Das sollte sich nie mehr wiederholen, sagte ich zu mir selbst, und wurde so ein eifriger Leser philosophischer Bücher. Vor den Besuchen bei Mr. Benigson begann ich mich mit den Thesen von Schopenhauer und Kant zu präparieren. Dieses jedoch nur, um mich gegen die einfachen und eindeutigen biblischen Aussagen des Evangeliums zu wehren.

 

Mr. Benigson jedoch sprach mit mir in aller Einfachheit über die Gnade und Liebe Jesu Christi. Für eine geraume Zeit versuchte ich mich hinter philosophischer Logik, den Gesetzen der Natur und der Metaphysik - soweit ich sie verstand - zu verstecken. Aber an diesem Tage, es war der 13. Januar 1947, in der kleinen Küche von Mr. Und Mrs. Benigson, war ich endlich in der Lage, meinen Stolz und meine Arroganz über Bord zu werfen, mich dem anvertrauen, der Himmel und Erde geschaffen hat, der in seiner unerklärlichen Liebe ans Kreuz von Golgatha ging, wo er auch für meine Sünden starb. Als ich von meinen Knien aufstand, umarmten mich Mr. und Mrs. Benigson, und dank der Gnade meines Herrn und Heilandes war es mir erlaubt, mich ein Kind Gottes zu nennen. Das war der Tag meiner Wiedergeburt.

 

Ein wiedergeborener, messianischer Jude führte mich, einen Heiden, zu dem Herrn Jesus. Für mich war das ohne Zweifel der Gnadentag des Herrn, und mir bleibt nur übrig, seine Liebe und Gnade zu preisen.

 

Tatsächlich wusste ich von diesem Moment an, warum ich ein Kriegsgefangener in England werden musste, woran ich vorher nie gedacht hatte als ich mit 17 Jahren Soldat wurde. Abschließend möchte ich noch auf eine tiefe Freundschaft hinweisen, die meine Frau und ich erfahren durften. Diese Erfahrung sehen meine Frau und ich als ein persönliches Geschenk von unserem Herrn an.

 

Es muss nicht besonders erwähnt werden, dass seit meiner Wiedergeburt eine lebendige Gemeinschaft zwischen unseren geliebten Brüdern und Schwestern in Bebington gewachsen ist. Diese Verbindung dehnte sich natürlich auch auf unsere Kinder und Enkel aus. Im Laufe unserer zahlreichen Besuche in England verbrachte unsere Familie im Jahr 1964 die Sommerferien an der Südküste Englands. Dort machten wir die Bekanntschaft eines englischen Ehepaares. Sie sind messianische Juden, die am Tag ihrer Hochzeit Glieder einer Baptistengemeinde wurden, mit der Konsequenz, dass von diesem Tag an alle jüdischen Verwandten jeglichen Kontakt mit unseren lieben Freunden vermieden.

 

Dieses erste Treffen begründete eine sehr gesegnete Verbindung christlicher Liebe, die nun schon 42 Jahre besteht. Wir haben alle wertvollen Erinnerungen der Freundschaft und Gemeinschaft in unserem gemeinsamen Herrn. Ebenso erfreuen wir uns eines fortwährenden Briefwechsels, der bis heute anhält.

 

Wertvolle und gesegnete Erfahrungen durften wir in über vier Jahrzehnten mit messianischen Juden erleben, wofür wir unserem Herrn und Erlöser dankbar sind (Eph.2, 2-22).

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