Mein Vater
Henry (Chaim) Fruchtenbaum war der erstgeborene Sohn in einer langen Reihe von erstgeborenen Söhnen, und er wuchs auf in der polnischen Stadt Pultusk. Beim Tode meines Großvaters war mein Vater 3 Jahre alt. Er wurde von seinem Großvater erzogen, der praktisch zu seinem neuen Vater wurde. In dieser Familie waren 12 andere Kinder, teils älter, teils jünger. Obwohl sie alle seine Onkel und Tanten waren, verstanden sie sich untereinander als Geschwister. Auch der Großvater meines Vaters, Baruch Simcha Fruchtenbaum, starb an Jom Kippur im Jahre 1937, als mein Vater 18 Jahre alt war. Ebenso wie sein Vater wurde auch mein Vater darauf vorbereitet, die Leitung der chassidischen Gruppe zu übernehmen. Er musste sich demselben Schulungsprogramm wie mein Großvater unterziehen. Außerdem kam er in eine Ausbildung als Photograph. Sein Schriftstudium musste jedoch am 1.9.1939 abgebrochen werden, als die Deutschen in Polen einmarschierten und damit der zweite Weltkrieg ausbrach.
Mein Vater hatte so etwas wie einen 6. Sinn für tödliche Gefahren. Als die Deutschen Polen besetzten, ahnte er, dass die Juden in Gefahr waren. Er beschloss, nach Russland zu gehen, und bat die anderen Familienmitglieder, mit ihm zu kommen. Aber niemand hörte auf ihn, und so floh mein Vater ganz allein. Als die anderen merkten, wie recht er gehabt hatte, war es zu spät. Nachdem der Holocaust vorüber war, waren 7 der 13 Verwandten mit ihren Ehegatten und Kindern umgekommen: einige im Warschauer Ghetto, einige in Auschwitz, einige im Ponary-Wald bei Wilna, die meisten in Treblinka. 6 Verwandte überlebten, und davon zogen 5 mit ihren Familien nach Israel, während mein Vater später in die USA übersiedelte.
Die Flucht nach Russland rettete zwar sein Leben, aber sie brachte ihn in große Not. Die Russen hatten mit den Juden nicht mehr Mitleid als die Deutschen. Obwohl mein Vater ein Jude war, wurde er von den Russen kurz nach dem Grenzübertritt beschuldigt, ein Nazispion zu sein. Man nahm ihn fest und brachte ihn in ein Konzentrationslager in Sibirien, wo er die folgenden zwei Jahre seins Lebens zubringen musste. 1941 brachen die Deutschen ihren Pakt mit Stalin ab und griffen die Sowjetunion an. Damit begann eine neue Phase des Krieges. Jetzt brauchten die Russen die Unterstützung der polnischen Exilregierung, die sich in England aufhielt. Die Polen sagte ihre Unterstützung zu unter der Bedingung, dass alle polnischen Staatsangehörigen aus den russischen Konzentrationslagern entlassen würden. Da mein Vater Pole war, kam er also frei. Aus dem gleichen Grunde wurde damals auch Menachem Begin aus dem russischen Gefängnis entlassen.
Aber weil die Deutschen damals weite Gebiete im europäischen Russland besetzt hatten, beschloss mein Vater, bis zum Ende des Krieges in Sibirien zu bleiben. Doch er musste von etwas leben, und Arbeitsplätze gab es nicht. Da war es gut, dass er zuvor den Beruf eines Photographen gelernt hatte. Der Krieg und Stalins Massendeportationen seiner eigenen Bevölkerung führten zu einem großen Bedarf an Fotos für Pässe und andere offizielle Dokumente. Jedermann brauchte Bilder, und mein Vater hatte damit ein stetiges Einkommen. Bei seiner Arbeit lernte er dann auch meine Mutter kennen. Auch sie war gezwungen worden, nach Sibirien umzusiedeln, und brauchte Bilder für amtliche Papiere. Einige Monate später heirateten sie, und am 26. September 1943 wurde ich in Tobolsk geboren. Ich erhielt den russischen Namen Aritschek Genekowitsch Fruchtenbaum.
Im Laufe der Zeit ging die Nachfrage nach Bildern zurück, und das Einkommen reichte nicht mehr aus zum Leben. Wenn man Geld hatte, so war das auch noch keine Garantie, dass man dafür etwas kaufen konnte. So musste man auf andere Weise nach Nahrungsmitteln suchen, und meinem Vater verfiel auf eine Methode, die sonst bei Juden nicht üblich ist - die Jagd. Das bedeutete in mindestens einem Fall, dass wir Igelfleisch essen mussten - ein nicht gerade koscheres, übliches Mahl in einem jüdischen Hause!
Polnische Pogrome
Der zweite Weltkrieg ging zu Ende, und den polnischen Staatsangehörigen in der Sowjetunion wurde erlaubt, nach Polen zurückzukehren. Weil dort inzwischen eine kommunistische Regierung herrschte, war nicht zu befürchten, dass es dadurch ideologische Probleme geben würde. So begaben sich meine Eltern auf den weiten Weg zurück in die polnische Heimat meines Vaters, und mich nahmen sie mit, obwohl ich eigentlich infolge meiner Geburt in Russland ein Russe war. Zu dieser Zeit war ich drei Jahre alt. Unsere Reise führte uns auch durch die Ukraine, und hier erkrankte meine Mutter an Typhus und kam ins Krankenhaus. Wieder hatte mein Vater nach einem Lebensunterhalt für seine Familie zu suchen. Das zwang meine Eltern, mich in ein Waisenhaus zu geben. Obwohl die Ukraine eigentlich eine Kornkammer in der Sowjetunion war, gab es dort in den Nachkriegsjahren eine Hungersnot. Überall gab es nur wenig zu essen, so dass für ein Waisenhaus nichts mehr übrig blieb. Täglich starben Kinder vor Hunger, und Tag für Tag mussten ihre toten Körper beseitigt werden. Aber am Abend eines jeden Tages kam mein Vater mit zwei Scheiben Brot für seinen Sohn. Obwohl ich dabei bis zu Haut und Knochen abmagerte, konnte ich doch durch den Einfallsreichtum und die Fürsorge meines Vaters überleben. Schließlich wurde meine Mutter wieder gesund, und wir kamen endlich in Polen an.
Mein Vater traf mit einem seiner Brüder und drei Schwestern zusammen, die den Holocaust überlebt hatten. Eine Schwester hatte ihren Mann verloren, und der Bruder hatte seine Frau und sein einziges Kind eingebüßt. Ein weiterer Bruder hatte es geschafft, während der Kriegsjahre nach Israel auszuwandern. Wir wollten in Polen bleiben und zogen in ein jüdisches Ghetto, das überwiegend von römisch-katholischen Christen umgeben war. Dort blieben wir ein Jahr. Einige Monate nach unserer Ankunft war es Zeit, unser erstes Passahfest seit dem Kriegsausbruch zu feiern, Passah 1947. Es war außergewöhnlich wichtig und bedeutungsvoll, denn wir hatten sowohl die Erlösung aus Ägypten als auch unsere Errettung von den Deutschen zu feiern. Und so freuten wir uns ganz besonders auf das Fest. Während der acht Feiertage dürfen wir nur ungesäuertes Brot essen, und nichts ist zu essen erlaubt, was Sauerteig enthält So waren unsere Mütter damit beschäftigt, das Brot für die Zeit des Passahfestes zu backen.
Zur selben Zeit wurde ein kleines, 3 Jahre altes römisch-katholisches Kind vermisst. Da verbreiteten die Katholiken das Gerücht, dass die Juden das Blut eines Christen brauchten, um ihr ungesäuertes Brot zu backen. Sie beschuldigten uns, den Jungen entführt und in einem Ritualmord getötet zu haben, um sein Blut für das Brot zu verwenden. Dieses Gerücht verbreitete sich über ganz Polen. Als wir in der Passahnacht beieinandersaßen, um zu essen, formierte sich draußen auf der Straße der Mob, angeführt von der Polizei und dem Klerus der katholischen Kirche. In ganz Polen griff der Pöbel die jüdischen Ghettos an einschließlich desjenigen, in dem wir wohnten. Überall im Land wurden in dieser Passahnacht 1947 Tausende von Juden im Namen Jesu Christi von den Polen ermordet. Unter diesen Verhältnissen hörte ich zum ersten Mal den Namen Jesus Christus - nicht als Namen derjenigen, der kam, um für mich zu sterben, sondern als einer, für den beinahe ich hätte sterben müssen. Als der Mob in die Türen der jüdischen Häuser einbrach, standen Priester dabei und schwenkten ihre Kreuze. Bevor ein Jude getötet wurde, riefen sie (auf Polnisch) den üblichen Spruch: „Ihr habt Christus getötet, und darum werden wir euch töten!“ In diesen Worten hörte ich zum ersten Mal etwas von Christus. Aufgrund dieses Erlebens wuchs später eine Barriere in meinem Denken, wie bei so vielen anderen
Juden, zwischen „uns“ und „ihnen“, den Christen oder Heiden. Der einzige Jesus, von dem ich wusste, war ein Hasserfüllter, mörderischer Jesus so, wie er von der christlichen Kirche repräsentiert wurde, aber nicht der wirkliche Jesus des Neuen Testaments.
Die Flucht aus Polen
Ein Gutes hatte der Aufruhr in Polen, und das war die Arbeit der israelischen Untergrundbewegung. Als die Israelis erfuhren, was in Polen geschehen war, entwickelten sie einen Plan, um so viele Juden wie möglich von hinter dem Eisernen Vorhang herauszuholen. Sie machten sich an die polnische Grenzpolizei heran und bestachen sie. So kam es zu einem „Übereinkommen“, dass in einem Zeitraum von 30 Tagen alle Juden die polnische Grenze ungehindert passieren durften. Meine Eltern hörten durch die Untergrundbewegung davon und entschlossen sich, diese Gelegenheit zu nutzen. Um kein Aufsehen zu erregen, benützten wir keine öffentlichen Verkehrsmittel. Wir trugen auf dem Rücken, so viel wir konnten, schlössen uns einer Gruppe anderer Juden an und machten uns auf den viele Meilen weiten Fußmarsch zur Grenze. Als wir schließlich dort ankamen, wurden wir von der Grenzpolizei angehalten. Wir wiesen uns als Juden aus, und die Polizisten nahmen ihre Waffen auf den Rücken, drehten sich um und begannen, die Vögel am weit entfernten Horizont zu beobachten. Sie ignorierten uns vollständig, und so konnten wir ohne weiteres in die Tschechoslowakei überwechseln. Später bekam ich heraus, was unser Grenzübertritt gekostet hatte. Es war nicht mehr als ein paar Stangen amerikanischer Zigaretten. Diese waren in Osteuropa damals außerordentlich beliebt und kostbar. Eine Stange Camel-Zigaretten reichte aus, um die Freiheit einer jüdischen Familie zu sichern. Während Zigaretten das Leben vieler Menschen gefährden, retteten sie mir ohne Zweifel das Leben, und das war ein Tag, an dem auch ich „meilenweit für eine Camel“ gelaufen bin.
Für die nächsten paar Stunden befanden wir uns im Niemandsland zwischen Polen und der Tschechoslowakei, bis der israelische Untergrund Kontakt mit uns aufnahm, uns zusammentrommelte, als Fußgängertrupp organisierte und uns dann in Richtung auf die österreichische Grenze in Bewegung setzte. Auch hier war die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für uns gefährlich, und so wanderten wir mehrere Wochen lang durch die tschechoslowakischen Wälder. Einen Tag, bevor wir an der Grenze nach Österreich ankamen, war die Regierung der Tschechoslowakei gestürzt worden, und die Kommunisten hatten die Macht übernommen. Sie lösten sofort die tschechischen Grenzposten ab, die bereits vom israelischen Untergrund bestochen worden waren, und ersetzten sie durch russische Posten, mit denen es natürlich kein Abkommen gab. Die Israelis befahlen uns, still zu bleiben, während sie zur Grenze gingen, um die Lage zu prüfen. Sie erfuhren, dass die Russen strengen Befehl hatten, niemanden durchzulassen mit Ausnahme von griechischen Staatsangehörigen, die aus deutschen Konzentrationslagern in ihre Heimat zurückkehrten. Als unsere Späher in unser Versteck zurückkamen, ordneten sie an, dass wir alles verbrennen sollten, was unseren Namen an sich trug. In dieser Nacht gingen unsere Pässe, Geburtsurkunden und alles weitere mit unserem Namen in Flammen auf. Am nächsten Morgen wurden wir unterwiesen, als Griechen aufzutreten und zur Grenze mit ihren russischen Kontrollposten zu gehen. Niemand unter uns war Grieche, keiner sprach ein einziges Wort Griechisch ... aber das konnten auch die Russen nicht! So konnten sie uns keine Fragen auf Griechisch stellen, und wir konnten ihnen auch nichts auf Griechisch antworten. Sie mussten einfach annehmen, dass wir Griechen waren. Mit dieser Lüge überschritten wir alle die österreichische Grenze, alle bis auf einen Mann vom israelischen Untergrund, der im allerletzten Moment noch erschossen wurde. Alle anderen aus der Gruppe kamen sicher über die Grenze. Seitdem habe ich das Wort aus Römer 1,16 in besonderer Weise auf mich anwenden können: Ich war zuerst ein Jude, aber dann auch ein Grieche - einen Tag lang!
Als wir in Österreich waren, übernahm uns die amerikanische Militärpolizei vom israelischen Untergrund und geleitete uns durch Österreich nach Westdeutschland. Dort taten sie etwas, was sie damals lieber nicht hätten tun sollen: Sie überstellten uns der britischen Militärpolizei. Die Folge davon war, dass wir die nächsten fünf Jahre in Lagern für zwangsumgesiedelte Personen (Disploced Persons) in verschiedenen Gegenden Deutschlands zubringen mussten. Wir sollten nicht nach Palästina auswandern, weil damals die Juden in Palästina gegen die Engländer um ihre Unabhängigkeit kämpften. Darum sorgten die Engländer dafür, dass alle Juden, die ihnen in die Hände kamen, in solchen Lagern festgehalten wurden. So mussten wir von einem Ort zum anderen durch ganz Westdeutschland ziehen.
Ungefähr im Jahre 1948 trat etwas ein, was für mein Leben sehr große Bedeutung erlangte. Wir verbrachten ein Jahr in einem D.P.-Lager in Ulm an der Donau, und hier geschah zweierlei, das einen Grundstein für mein späteres Lebenswerk legte. Zum einen fing mein Vater an, mich das Alte Testament zu lehren. Er las mir aus seiner hebräischen Bibel vor und übersetzte dann den Inhalt, teils in Jiddisch, teils in Polnisch. Damit erweckte er in mir eine Liebe zur Bibel, die mich niemals mehr verlassen hat. Auch als wir von einem Lager ins andere kamen, fuhr er damit fort. Mein ganzes frühes Bibelwissen kam allein von ihm. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, gab ich selbst meinen ersten Bibelunterricht und lehrte eine Gruppe jüdischer Kinder, die mich unter einem Baum umringten. Alles, was ich dabei vortrug, war eine Wiederholung dessen, was ich von meinem Vater gelernt hatte. Aber das war immer noch mehr, als sie wussten. Während meines letzten Jahres in Deutschland besuchte ich dann eine jüdische Schule in einem der Lager und stellte fest, dass ich den anderen weit voraus war.
Noch ein zweites geschah im Ulmer Lager. Damals wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass Jesus der Messias ist. In dem Lager arbeitete ein evangelischer Pfarrer, Theophil Burgstahler, mit seiner Tochter Hanna. Er war als Judenmissionar für die Schweizerische Evangelische Judenmission Basel tätig. Seine hauptsächliche Arbeit zu dieser Zeit bestand darin, die neu eintreffenden Flüchtlinge aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang mit Kleidung und humanitärer Hilfe zu versorgen. Von ihm erhielten wir unsere ersten Kleidungsstücke, seit wir in Westdeutschland waren. Ich weiß nicht, in welcher Sprache die Gespräche mit ihm stattfanden, denn ich war daran nicht beteiligt. Aber als er hörte, dass wir beantragt hatten, nach Amerika auszuwandern, zog er eine Zeitschrift von einer amerikanischen Judenmissions-Gesellschaft hervor, Ausgabe vom Oktober 1949. Unten auf dem Titelblatt befand sich die New Yorker Adresse dieser Mission. Er riss das Titelblatt ab und gab es meiner Mutter mit der Bitte, sich in New York an diese Adresse zu wenden, wo man uns weiterhelfen könnte. Meine Mutter verstand nicht ganz, um was für eine Organisation es sich handelte, und nahm an, es sei eine Einrichtung, die jüdischen Einwanderern in Amerika helfen würde. Das war es in der Tat, aber es war noch etwas mehr als das, und als meine Mutter das merkte, war es bereits zu spät, was mich betraf. Nach fünfjähriger Irrfahrt durch deutsche Lager erhielten wir 1951 endlich unsere Visa für die Auswanderung nach Amerika. Da verließ die Familie Fruchtenbaum, die inzwischen um einen zweiten Sohn und eine Tochter angewachsen war, Westdeutschland und traf in New York ein. Sie siedelte sich in
Brooklyn an und begann in den USA ein neues Leben.
New York
Sobald meine Mutter mit Brooklyn
etwas vertraut war, nahm sie das Titelblatt der Zeitschrift, das sie jahrelang aufgehoben hatte, und fuhr mit der UBahn nach Manhattan. Sie fand die Adresse, die sie
suchte, und begegnete im Hause jemandem von der Missionsverwaltung. Aber sie sprach kein Englisch, die Anwesenden konnten weder Polnisch, Russisch, Deutsch noch Jiddisch, und so gab es nur eine sehr schlechte Verständigungsmöglichkeit. Man notierte sich ihre Anschrift und versprach, in Kürze mit ihr Verbindung aufzunehmen - was dann freilich erst sechs Jahre später tatsächlich geschah.
Während dieser sechs Jahre lebte ich in einer rein jüdischen Welt. Der Teil von Brooklyn, in dem wir wohnten, war so jüdisch, dass er von den benachbarten Nichtjuden „Klein-Israel“ genannt wurde. In den Bezirken ringsherum wohnten Schwarze, Italiener, Portoricaner und andere Nichtjuden, von denen sich die jüdische Gemeinde stark unterschied. Da die Schulen, die ich besuchte, zu 99 % jüdisch waren, war mein Kontakt mit Nichtjuden oder Christen praktisch gleich Null. Mein Vater setzte seinen biblischen Unterricht für mich fort, aber das geschah immer seltener und hörte schließlich ganz auf. Natürlich lastete auf ihm viel Druck als Vater einer Immigrantenfamilie, der für sein Frau und drei Kinder zu sorgen hatte und noch nicht Englisch sprechen konnte. Trotzdem ließ meine Liebe zur Bibel nicht nach. Ich lernte weiter und hatte dazu viele Gelegenheiten in unserer sehr stabilen, jüdischen Umgebung in Brooklyn.
Nach sechs Jahren eröffnete die Judenmission, von der ich schon sprach, eine neue Missionsstation ungefähr eine Meile von unserer Wohnung entfernt. Irgendjemand im dortigen Büro sah all die Unterlagen durch, die sich über Jahre angesammelt hatten, und sortierte alle die Adressen aus, die sich in einem gewissen Umkreis um die Missionsstation befanden. Dann wurden Mitarbeiter ausgesandt, die uns besuchten und uns in die neue Station einluden. Nach kurzer Zeit kam jemand zu uns, und wir erhielten eine Einladung zu einer jüdisch-christlichen Zusammenkunft. Als ich diese Bezeichnung zum ersten Mal hörte - „jüdisch-christlich“ -, dachte ich, das sei ein totaler Widerspruch der Begriffe. Man ist entweder ein Jude oder ein Christ, aber niemals beides. Jeder, der sich einen Juden und zugleich einen Christen nennt, hat etwas Schizophrenes an sich, trägt zwei Persönlichkeiten in einer. Aber trotzdem war in mir die Neugier erwacht, und ich beschloss, am Abend des ersten Treffens hinzugehen. Ich ging hinein in den kleinen Versammlungsraum und setzte mich hin. Je mehr ich zuhörte, umso ärgerlicher wurde ich. Es berührte mich nicht, dass hier Juden von Jesus sprachen; so viel hatte ich schon erwartet. Mich ärgerte vielmehr, dass sie dazu unsere Bibel, den Tenach (das Alte Testament), benutzten. Ich war in dem Glauben erzogen worden, dass wir Juden unsere Bibel und die Christen ihre eigene Bibel haben. Ihre Bibel sei das Neue Testament und handelt von ihrem Gott, der Jesus heißt, aber das setzt nicht voraus, dass Jesus auch in unserer Bibel vorkommt. Hier aber waren Christen, die unsere Bibel benutzten, um von ihrem Jesus zu sprechen, und das ging mir gehörig auf die Nerven.
Fräulein Ruth Wardeil, die mich zu dem Treffen eingeladen hatte, konnte sehen, wie ärgerlich ich war, und sie war so weise, nicht mit mir darüber zu streiten, sondern stattdessen forderte sie mich heraus. Sie gab mir ein Neues Testament mit nach Hause und bat mich nachzusehen, ob nicht Jesus alles das getan hatte, was wir vom Messias erwarteten. Ich nahm das Neue Testament an, aber nicht, weil ich dafür offen war, sondern weil ich entschlossen war, diese Schizophrenie ein für alle Mal als falsch zu entlarven. So nahm ich es mit nach Hause.
Je mehr ich darin las, umso mehr beeindruckte mich sein jüdisches Wesen. Es war völlig anders als das, was ich erwartet hatte. Von meinem Rabbiner war ich belehrt worden, das Neue Testament sei ganz offensichtlich ein heidnisches Buch. Ich dachte, ich würde darin lesen von großen Kirchen mit bunten Fenstern und feierlich gekleideten Priestern, die Weihrauchkessel schwenken, sich vor Ikonenbildern verneigen und dann den Leuten sagen: „Geht hin, und bringt in Jesu Namen die Juden um!“ Wir waren der Meinung, dass das Verhalten der Christen in Europa und anderswo nur aus ihrer Bibel, aus dem Neuen Testament, stammen konnte. Doch die ersten Worte in dem Buch lauten: „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.“ Wie jüdisch kann man denn noch sein? Je mehr ich darin las, desto jüdischer wurde das Buch für mich. Da gab es Rabbinern, Pharisäer, Leviten und jüdische, theologische Debatten, mit denen ich ganz vertraut war. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch für mich nicht anders als andere jüdische Bücher, die ich kannte. Alles in dem Buch unterschied sich ganz und gar von dem, was ich mir vorgestellt hatte, und das reizte mich, darin immer weiter zu lesen.
Bis ich dann das Neue Testament zu Ende gelesen hatte, war ich davon überzeugt: Wenn dieser Jesus nicht der Messias Israels war, dann gab es überhaupt keinen Messias; dann hätten die Reformjuden die ganze Zeit über recht gehabt, und wir orthodoxen Juden lebten in einer Traumwelt. An diesem Punkt hatte ich die „erste Stufe“ erreicht. Es gibt viele Juden, die auf dieser Stufe ankommen; sie sind überzeugt, dass Jesus der Messias ist, aber sie kommen nicht weiter als bis dahin. Sie wagen nicht den zweiten Schritt und nehmen Jesus nicht persönlich für sich an. Sie erlauben Ihm nicht, ihr Leben zu ändern, weil sie Angst haben, ihre Freunde, ihre Familie oder ihre berufliche Stellung zu verlieren, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, und sie fürchten sich, in eine fremde und unbekannte, heidnische Welt hinaus gestoßen zu werden. Auf jüdischen Friedhöfen gibt es Gräber, auf deren Grabstein Name und Geburtsdatum eines Juden stehen, und als Todestag ist das Datum angegeben, an dem dieser Jude Christ wurde.
All diese Gedanken und Ängste gingen mir durch den Kopf, als ich zum zweiten Mal zur Missionsstation ging. Diesmal war ich nicht mehr ärgerlich. Ich saß mit Fräulein Wardell zusammen und wir gingen miteinander das Alte und Neue Testament durch, von Anfang bis Ende und wieder zurück. Wir studierten die Bibel und besprachen alles, was sie über den Messias lehrt. Ich wurde voll überzeugt, beugte mein Haupt, akzeptierte Jesus als meinen Messias und trat damit selbst in die Reihen der „Schizophrenen“ ein.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich meinem Vater zuerst von meinem neuen Glauben erzählte, aber seine Reaktion war weder positiv noch negativ. Er dachte wohl, dass er meine Entscheidung im zarten Alter von 13 Jahren noch nicht so ganz ernst nehmen konnte. Darum hatte er auch noch nichts dagegen, dass ich in die messianischen Versammlungen ging.
Kalifornien
Ein Jahr später emigrierte unsere Familie von Brooklyn aus in das „richtige Amerika“ und zog um nach Südkalifornien. Ich blieb die nächsten vier Jahre in Los Angeles, wo ich eine zu 80 % jüdische Oberschule besuchte. In dieser Zeit erlebte ich die Wahrheit der Worte Jesu, wie sie im Matthäus Evangelium (teilweise nach dem Propheten Micha zitiert) berichtet werden (Matth. 10,34-39). Während der ganzen Zeit, die ich in Kalifornien war, stand mein Vater meinem christlichen Glauben mehr und mehr ablehnend gegenüber, und seine Einstellung schien sich ebenso radikal zu verändern, wie sich unsere geographische Lage verändert hatte. Er verbot mir, zu jüdischen oder christlichen Versammlungen zu gehen. In den ersten beiden Jahren verbot er mir auch, irgendetwas in der Bibel zu lesen, weder Altes noch Neues Testament, und so musste ich es heimlich tun. Während meine Eltern
täglich von 9 bis 17 Uhr in seinem neu eröffneten Fotogeschäft arbeiteten, ging ich zur Schule und hatte dort um 14 oder 15 Uhr Schluss. Dann ging ich schnell nach Hause und las die Bibel, bis ich meine Eltern gegen 17.30 Uhr heimfahren hörte und rasch meine biblischen Unterlagen beiseite räumte.
Mein Vater lehnte mein Interesse an der Bibel und am Messias ab, obwohl er es ja gewesen war, der diesen Eifer einst geweckt hatte. Schließlich hörte er ganz auf, noch mit mir zu reden. Das ganze letzte Jahr über, als ich auf der Schule war, sprachen wir kein einziges Wort miteinander, und ich musste mich dieser totalen Schweige-„Terapie“ widerstandslos unterwerfen. So etwas war in der jüdischen Kultur, in der mein Vater aufgewachsen war, nicht unbekannt. Wir wohnten im selben Haus aßen am selben Tisch miteinander, aber zwischen uns wurde kein einziges Wort gewechselt. Etwa zwei Monate, bevor ich die Schule beendete, teilte er mir durch meine Mutter mit, dass ich sein Haus nach meiner Abschlussprüfung, zu verlassen hätte.
Da gab eine neue Krise in meinem geistlichen Leben. Zu dieser Zeit war ich ungefähr vier Jahre lang gläubig. Ich hatte bereits viele Probleme um Jesu Christi willen in meinem Elternhaus gehabt, und jetzt wurde ich schließlich ganz hinausgeworfen. Damals las ich gerade den Philipperbrief, und ich fand Trost in dem Vers 4,19. Als ich von der Schule abging, hatte ich diesen Vers und 120 Dollar in meiner Tasche, die ich mir bei einem kleinen Job in einer lutherischen Kirche verdient hatte.
Zurück nach New York
Mein Vater hatte verlangt, dass ich nicht nur sein Haus, sondern auch den Staat Kalifornien verlasse. Wenn es bekannt wurde, dass ich ein Christ geworden war, dann konnte das sein Geschäft ruinieren. So machte ich meinen Oberschulabschluss im Jahre 1962 und ging zurück nach New York. Zwei Wochen brauchte ich, um quer durch Amerika von Los Angeles nach New York zu gelangen. Als ich ankam, hatte ich nur 17 Dollar aus meiner eigenen Tasche bezahlen müssen. Zum ersten Mal hatte ich erlebt, wie Gott in einmaligen Weisen mit mir auf jedem Schritt der Reise war und mir Mahlzeiten, Bett, Fahrgelegenheiten oder was ich sonst noch nötig hatte, besorgte.
Den Sommer über arbeitete ich ohne Bezahlung in einem judenchristlichen Camp. Als der September herankam, war praktisch mein ganzes Geld ausgegeben, und ich halle nur noch 20 Dollar bei mir. Man hatte mich zur Ausbildung, an einem christlichen College für Geisteswissenschaften in New Jersey angenommen. Das war eine private Schule, und die Gebühren dafür betrugen 2.000 Dollar im Jahr. Da konnte ich mit 20 Dollar nicht weit kommen (so viel sei für diejenigen gesagt, die behaupten, alle Juden sind reich). Ich hielt es daher für die beste Entscheidung, ein Jahr zu warten und so viel wie möglich Geld zu verdienen. Dazu wollte ich nach New York City gehen, dort eine ganztägige Arbeit annehmen und möglichst noch eine halbtätige zusätzlich, um dann jeden Cent auf die Seite legen und mein Studium ein Jahr später beginnen zu können. Das schien mir eine glänzende Idee zu sein, aber Gott war davon nicht sehr beeindruckt. Er ließ mir deswegen keine Ruhe, und schließlich zeigte Er mir, dass ich das College sofort beginnen und Ihm die Sorge um die Gebühren überlassen sollte.
Im September 1962 ging ich ins Büro der Schule, ließ mich für den Kursus eintragen und kam mit einer Rechnung über 750 Dollar heraus, die nach vier Monaten zum Ende des ersten Semesters zu bezahlen war. Andernfalls hätte ich mein Studium nicht fortsetzen dürfen. Ich erinnere mich, wie ich den Korridor mit der Rechnung in der Hand entlang ging und betete: „Herr, Du hast mich veranlasst, diesen Kursus anzufangen, und nun hast Du auch dafür zu sorgen, dass dieses Geld bis zum Tag der Fälligkeit da ist“ Als dann das erste Semester zu Ende ging, hatte Gott nicht nur für die 750 Dollar gesorgt, sondern das College schuldete mir noch Geld! Mein nichtjüdischer Zimmergefährte erfuhr davon, denn er befand sich an dem Tag im Schulbüro. Er kam zu mir in die Cafeteria und sagte: „Junge, du bist wirklich ein richtiger Jude, nicht wahr?“ Bei sieben von den acht Semestern spielte sich dieselbe Geschichte ab. Immer am Semesteranfang schuldete ich die Bezahlung, und am Schluss schuldete das College mir Geld.
Am Ende des achten und letzten Semesters ging alles gerade bis zum letzten Cent auf, und ich machte meine Abschlussprüfung in 1966. Die Kursusgebühren waren natürlich nicht meine einzigen Kosten, ich musste ja auch Kleidung, Lebensmittel, Bücher und anderes kaufen. Damals habe ich es zu meiner Gewohnheit gemacht und bin bis heute dabei geblieben, niemals meinen Bedarf öffentlich bekannt zu machen, auch nicht bei engen, persönlichen Freunden. Ich wollte sicherstellen, dass mir niemand aus irgendeiner Art von Sympathie Geld gibt, sondern nur, weil ihn der Herr dazu bewegt hat. Für die Dinge, die ich brauchte, habe ich immer privat gebetet, und der Herr hat sie mir immer verschafft. Stets ging das nötige Geld ein, manchmal von Menschen, die ich bis heute nicht kennen gelernt habe, die Tausende von Kilometern entfernt wohnten. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie diese Leute von einem 1,62 m großen, jüdischen Jungen gehört hatten, der da auf einem Campus in New Jersey herumlief - aber Gott sorgte stets für mich.
Einmal, als ich schon zwei Jahre auf dem College war, reiste mein Vater zum Besuch nach Israel, und auf der Rückfahrt machte er Halt in New York, um mich zu besuchen. Als wir uns begegneten, bot er mir ein Auto an, die Bezahlung meiner College-Kosten und anderes, wenn ich meinen christlichen Glauben aufgeben wollte. Das konnte ich aber nicht tun. Trotzdem lud er mich für den Sommer nach Los Angeles ein. Ich fuhr hin, und zunächst schien alles normal zu verlaufen. Aber bald danach machte er wieder seine negative Wendung zum totalen Schweigen. So ging es mit unseren Beziehungen ständig auf und ab. Während meiner College Jahre in New York wurden in Kalifornien drei weitere Schwestern geboren, aber auch sie durfte ich monate- oder sogar jahrelang nicht sehen. Erst viele Jahre später normalisierte sich unser Verhältnis allmählich.
Nachdem ich das Zeugnis von der Wahrheit in Math.10,35 abgelegt habe, wonach es eine Trennung, geben wird zwischen einem Menschen und seinem Vater, möchte ich auch die Wahrheit der Verheißung Jesu über die Erstattung bezeugen (Markus 10,29-30): Gemäß der Verheißung von Markus 10,30 gibt es in diesem Leben eine Erstattung für das, was wir durch den Glauben verloren haben. Nachdem ich von zuhause fort gegangen und ans College gegangen war, wurde ich von drei fremden Familien „adoptiert“. Das war keine rechtliche Adoption, aber sie geschah in jeder praktischen Hinsicht. Bis zum heutigen Tag nennen sie mich Sohn und ich nenne sie Mutter und Vater. Beim Abschluss des zweiten Semesters befanden sich drei Schlüssel an meinem Schlüsselbund. Einer passte zu einem Haus in Levittown, Long Island, einer zu einem Haus in Washington D.C., und der dritte gehörte zu einem Haus in Wild Wood, New Jersey. Von jeder dieser Familien war ich als Familienangehörige akzeptiert, und wenn ich in ihre Umgebung kam, dann hatte ich die Erlaubnis, in ihre Wohnung zu kommen und mich dort zu Hause zu fühlen, ob gerade jemand von ihnen anwesend war oder nicht. Bis heute nennen mich ihre Söhne und Töchter Bruder, und ich sage zu ihnen Bruder oder Schwester. Als ich das College abgeschlossen hatte, brachte die Familie in Wildwood, New Jersey, eine Annonce in die lokale Zeitung. Neben meinem Foto stand: „Herr und Frau Charles Cattell geben den erfolgreichen Schulabschluss ihres Sohnes Arnold G. Fruchtenbaum bekannt.“ Ich kann der Wahrheit gemäß sagen, dass ich in diesem Leben mit Vätern, Müttern, Brüdern, Schwestern und Häusern versorgt wurde, genauso wie Jesus es verheißen hat…