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Die Geschichte der Einen Herde

 

Kirill Swiderski

Da wir nun daran glauben, dass Jeschua der verheißene Messias Israels ist, wurden wir Juden mit Problemen in unserer Beziehung zu einigen unserer nichtjüdischen Brüder und Schwestern konfrontiert, welche aus irgendwelchen Gründen entscheiden wollen, wie messianische Juden ihre Gottesdienste zu halten haben. Wie sehr wünschte ich, dass die Worte der Bibel über die Liebe zwischen Brüdern und Schwestern Wirklichkeit würden! Sagen wir wie unter Gerechten am Beispiel von Eheleuten, die einander lieben. Ein durchaus biblisches Beispiel, so könnte man sagen. Ungeachtet dessen, dass die Frau dem Manne nicht ähnlich ist und der Mann der Frau, ist die Frau für den Mann erschaffen worden, um mit ihm gemeinsam ein Fleisch zu werden, eine Familie zu gründen und ihren Schöpfer damit zu verherrlichen. Mit anderen Worten ist es ganz und gar nicht notwendig, einander ähnlich zu sein, um eine Einheit zu schaffen. Jeschua sagt dazu: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“ (Joh. 10:16; Luther 2017). Das heißt nun aber nicht, dass alle Schafe, die sich der bestehenden Herde anschließen, den ursprünglichen Schafen gleich sind, denn Jeschua ist kein Gleichmacher-Kommunist. Sondern sie sollen eine Einheit bilden, was viel wertvoller und besser ist, da das Zentrum ihres Lebens und dementsprechend ihres Umgangs miteinander Jeschua – der Messias Israels – ist! Wie bei einem Ehepaar haben diese beiden Herden nicht immer die gleiche Funktion und etwas unterschiedliche Ziele und Wege. Doch gerade aus dem Grunde, dass Einheit durch Gleichartigkeit ersetzt wurde – was die homosexuelle Ehe hervorgebracht hat – kam es zum Missverständnis in Bezug auf die Einheit auch bei den Schafen Jeschuas. Es versteht sich von selbst, dass ein einziger Artikel dieses Missverständnis nicht lösen kann. Deswegen mein Sendschreiben an die messianischen Juden – an die erste Herde Jeschuas.

 

Theologie

Um Klarheit über die entstandene Situation zu schaffen, würde ich gern einen Blick zurück in die Geschichte werfen. Viele an Jeschua Gläubige sind sich nicht darüber im Klaren, dass ihr Glaube in großer Gefahr ist, weil er nicht auf dem Wort des Allerhöchsten beruht, sondern auf einer der theologischen Theorien. Die allererste und die primitivste davon ist die berühmt-berüchtigte Ersatztheologie, erfunden durch antisemitisch denkende Kirchenväter der frühen katholischen Kirche. Gemäß dieser Ersatztheologie hat Gott die Juden verworfen, da sie den Messias nicht angenommen haben, und die Kirche ist jetzt das „Neue Jerusalem“. Gerade diese Theorie ist der Grund für die Pogrome, den Holocaust und den modernen Antisemitismus. Danach entstand die gegenüber den Juden neutraler formulierte sogenannte Bundestheologie, die aber an den Tatsachen auch nichts änderte. Schließlich wurde sie vom berühmten Dispensionalismus abgelöst, der die gesamte menschliche Geschichte in sieben Zeitabschnitte einteilt. Der Dispensionalismus beruht im Unterschied zu den vorangehenden Theologien auf der wortgetreuen Auslegung der Heiligen Schriften und auf der Unterscheidung zwischen Israel und der Gemeinde. Gott hat gemäß dieser Theorie mit zwei menschlichen Heilskörperschaften zu tun: mit einer national-ethnischen, Israel, und mit einer internationalen, der Gemeinde. Gemäß dieser Theorie leben wir in der Zeitspanne  der „Gnade“, welche  zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Messias einzuordnen ist – eine Zeit, wo die Gemeinde das Volk Gottes darstellt. Wenn aber Jeschua wiederkommt, wird Seine Gemeinde zu Ihm entrückt, und der Allerhöchste wird erneut durch Sein Volk Israel handeln. Diese theologische Theorie ist nicht antisemitisch. Sie war der Grund für das Aufkommen einer großen Anzahl von pro-israelischen Christen. Aber auch diese Theorie hat einen Haken: Wenn nämlich ein moderner Jude zum Glauben an Jeschua kommt, höre er auf, Teil des Volkes Israel zu sein, und wird automatisch ein Glied der Gemeinde. Entgegen dieser Auffassung schrieb der Rabbiner Schaul: „Ich frage nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Iraelit, aus dem Samen Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.“ (Röm. 11:1; Schlachter 2000). Man beachte, dass Schaul (Paulus), wenn er sich selbst als Menschen, der an Jeschua glaubt, beschreibt, sich selbst als Israelit, als Glied des Volkes des Allerhöchsten, und nicht einfach, sagen wir, als Jude bezeichnet. Gott hat Israel nicht verworfen und nicht durch irgendein anderes Volk oder eine andere Gemeinschaft von Menschen ersetzt aufgrund der Tatsache, dass die Juden in ihrer Mehrheit nicht an den Messias geglaubt haben. D.h. sowohl die Ersatztheologie als auch die Bundestheologie funktionieren nicht. Aber es gibt auch mit dem Dispensionalismus Probleme. Schaul glaubt an Jeschua, er ist ein „Glied der Gemeinde“, doch gleichzeitig gehört er damit weiterhin zum Volk Israel.

 

Zeugnisse von frühen Christen

Außerdem gibt es noch Zeugnisse von frühen Christen, die auch die Position Schauls vertreten. In seinem Buch „Dialog mit dem Juden Trifon“ erinnert Justin der Märtyrer, ein geschätzter christlicher Leiter des zweiten Jahrhunderts, daran, dass es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts messianische Juden gab, welche weiterhin gemäß der jüdischen Tradition lebten, was sie nicht daran hinderte, dem Messias Jeschua nachzufolgen. Zu Christen, welche die Befolgung der jüdischen Traditionen ablehnten, sagt er, dass wenn jemand die Bestimmungen, welche Mose gab, befolgen will, wenn er gleichzeitig mit seiner Hoffnung auf den Messias und mit den Christen und Gläubigen leben will, dann muss man sich mit ihm verständigen und Gemeinschaft haben wie mit Verwandten und Brüdern.“

Irenäus, der ein geachteter Leiter der Kirche des zweiten Jahrhunderts und nach der Überlieferung  ein Schüler der Apostel selbst war, schrieb folgendes („Gegen die Häresien“): „Doch sie selbst […] vollzogen die überlieferten Gepflogenheiten der Apostel […]. So wirkten die Apostel […] untadelig gemäß dem Bund des Gesetzes des Mose“.

Bei Epiphanios (ca. 400 u.Z.) lesen wir: „Aber in der Tat blieben sie Juden und nichts anderes. Denn sie benutzen nicht nur das Neue Testament, sondern auch das Alte, wie auch die Anhänger des jüdischen Glaubens, weil sowohl die Thora als auch die Propheten und die Schriftwerke (M. Buber!) in der Bibel von den Anhängern des jüdischen Glaubens anerkannt werden, und sie verwerfen diese nicht […]. Sie leben unter den Juden in Übereinstimmung mit der Thora, dem jüdischen Gesetz […]. Sie glauben an den Messias, weil sie auch an die Auferstehung der Toten glauben […]. Sie verherrlichen Gott und Seinen Sohn Jesus Christus. Sie können Hebräisch […], denn die ganze Thora und die Propheten […] werden von ihnen auf Hebräisch gelesen […], sie stimmen nicht mit den Anhängern des jüdischen Glaubens überein wegen ihres Glaubens an den Messias; sie sind nicht einverstanden mit den Christen, weil sie gemäß der Thora an der Beschneidung, am Schabbat und an anderen Dingen festhalten“ („Panarion“).

Die Äußerungen Schauls und die angeführten historischen Auskünfte belegen, dass die Einheit von Juden und Nichtjuden, welche an Jeschua glaubten, nicht auf der Gleichartigkeit der Gläubigen, sondern auf ein und demselben Messias Jeschua beruhte, an den sie glaubten. Dabei blieben die Juden - Juden und Nichtjuden – Nichtjuden. So schrieb derselbe Schaul: „Ist jemand als Beschnittener berufen, der bleibe bei der Beschneidung. Ist jemand als Unbeschnittener berufen, der lasse sich nicht beschneiden“ (1. Kor. 7:18; Luther). „Epispastho“ von „epispao“ – zuziehen, überziehen (nämlich die Vorhaut, medizinischer Ausdruck), wörtlich oder auch bildlich = sein Beschnittensein verleugnen (Sprachlicher Schlüssel zum Griech. NT, S.366). „Sein Beschnittensein verdecken“ ist ein schwer verständlicher Ausdruck. Alle wissen genau, dass man den beschnittenen Körperteil gewöhnlich nicht zur Schau stellt. Hier geht es darum, dass jemand, der als Jude dazu berufen wird, an Jeschua zu glauben, es nicht verleugnet; als Nichtjude aber muss er nicht dann Jude werden! Für die Glieder der messianischen Gemeinde ist es wichtig zu wissen, als was sie berufen wurden, um fähig zu werden, die Einheit zum Ausdruck zu bringen, damit sie zu einer Herde mit einem Hirten werden. Das beruht nicht auf der Grundlage von Denominationen und von theologischer Dogmatik, sondern auf dem biblischen Wort.

 

Der historische Jeschua

Wenn wir die Problematik der Beziehungen zwischen messianischen Juden und Christen näher betrachten, taucht noch eine, wie es scheint, einfache Frage auf: „Wer war dann eigentlich der historische Jeschua?“ Die zweite Herde ignoriert gewöhnlich diese Frage. Für sie genügt es, dass Er der Sohn Gottes ist. Doch für die erste Herde ist diese Frage von außerordentlicher Bedeutung, weil die messianischen Juden glauben, dass Jeschua der verheißene jüdische Messias ist. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns noch eine Bibelstelle anschauen, die häufig antisemitisch interpretiert wird: „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben“ (Joh. 1,11-12). Wen meint Jochanan/Johannes mit dem Wort „Seine“ im Zusammenhang mit „wie viele aber“? Aus irgendeinem Grunde nehmen die meisten an, dass die „Seinen“ ohne Zweifel die Juden waren und dass sie Ihn nicht annahmen; und dass die „wie viele aber“ die Heiden seien, die ihn annahmen und Gottes Kinder wurden. Vor kurzem fand ich eine etwas mildere Interpretation: Er kam zu den „Seinen“, also zu Juden, welche Ihn nicht annahmen. Doch denen unter den Juden, die Ihn annahmen, gab er Macht, Gottes Kinder zu sein. Sehen wir uns das mal näher an. Dafür wollen wir eine kleine Szene aus dem Leben des zwölfjährigen Jeschua näher betrachten. Der verloren gegangene Junge wurde von Mirjam und Josef im Tempel gefunden, wie er im Kreise der Thora-Lehrer saß: „Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie befragte. Es erstaunten aber alle, die ihn hörten, über sein Verständnis und seine Antworten.“ (Luk 2,46-47; Schlachter). So wie damals unterscheidet man auch heute in der jüdisch-religiösen Gemeinschaft zwischen Kohenim (den Priestern, die selbstverständlich in der Heiligen Schrift ausgebildet waren) und HaArez (dem Land, der Landbevölkerung, dem einfachen, nicht gebildeten Volk). Im 1. Jahrhundert u.Z. war ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Gruppen: die hebräische Fachsprache der gebildeten Juden – die Sprache der Heiligen Schriften. Zu der Zeit war es für die Lehrer Israels undenkbar gewesen, nicht auf Hebräisch über die Thora zu diskutieren. Das einfache Volk aber sprach Aramäisch, die Sprache in welche die Thora später übersetzt wurde, woraufhin die sogenannten Targumim entstanden. So sitzt also der 12-jährige Junge unter Profis, welche über die Thora diskutieren, und im Gespräch mit ihnen zeigt er außerordentliche Kenntnisse! Die Bücher des Neuen Bundes zeigen uns eine ganze Reihe ähnlicher Stellen, die unterstreichen, wer Jeschua war. Jochanan, der Lieblingsschüler Jeschuas, beschreibt seinen Lehrer, als er am Sukkot-Fest nach Jerusalem gekommen war: „Als aber das Fest schon zur Hälfte vorüber war, ging Jesus in den Tempel hinauf und lehrte. Und die Juden verwunderten sich und sprachen: Woher kennt dieser die Schriften? Er hat doch nicht studiert!“ (Joh. 7,14-15). Jeschua hatte wirklich keine einzige religiöse Schule absolviert. Er kannte dennoch den Tanach (AT) sehr gut. Was bedeutet das? Eine weitere Stelle gibt uns eine Antwort auf diese Frage: „Und er kam nach Nazareth, wo er erzogen worden war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbattag in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. Und es wurde ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja gegeben; und als er die Schriftrolle aufgerollt hatte, fand er die Stelle, wo geschrieben steht…“ (Luk. 4:16-17). Jeschua, der es liebte, am Schabbat in die Synagoge zu gehen, wo zu seiner Zeit die Schrift studiert und interpretiert wurde, nahm die Jesaja-Rolle und rollte sie auf bis zu der entsprechenden Stelle. Eine Schriftrolle unterscheidet sich von einem Buch. Erstens gibt es da weder Kapitelzählung noch Verszählung. Um die nötige Stelle zu finden, muss man genau wissen, wie dick die Rolle links und (oder) rechts sein soll. Außerdem schrieb Jeschajahu ein sehr schwieriges Hebräisch, nicht zu vergleichen mit dem Hebräisch der Thora. Lukas, der diese Szene beschreibt, benutzt nicht von ungefähr das Verb „er fand“, womit er die Professionalität Jeschuas unterstrich. Selbstverständlich waren die Thora-Lehrer, die ihr Leben dem Studium der Sprache der Schriften und den Schriften selbst gewidmet hatten, erstaunt über die Sprachkenntnisse und den hervorragenden Professionalismus beim Umgang mit der religiösen Literatur bei dem „nicht studierten“ Sohn eines Zimmermanns (oder Maurers).

 

„Seine“ für Jeschua

Zurück zu Jochanan. Bei ihm finden wir die Schilderung der Begegnung Jeschuas mit einem gewissen Nakdimon (Nikodemus), in welcher Jochanan die außergewöhnliche Ehrerbietung des hochgeachteten Obersten der Judäer, des „Lehrers Israels“ (eines Mitglieds des jüdischen religiösen Hohen Rats) wiedergibt, als er Jeschua begrüßt: „… Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann all diese Zeichen tun, die du tust, es sei denn, dass Gott mit ihm ist“ (Joh. 3:2; Schlachter). Nach der jüdischen Tradition musste ein Mitglied des Synedriums 70 Sprachen beherrschen, um die Thora 70 Völkern erklären zu können. Die Wunderzeichen Jeschuas an sich konnten wohl kaum auf einen solchen Mann Eindruck gemacht haben. Wohl eher erkannte er in den Wundern Jeschuas die Erfüllung von Prophezeiungen der Schrift, die er auswendig kannte. Nicht von ungefähr nennt Jochanan Jeschua das Wort der Thora: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh. 1:1), das „… Fleisch wurde und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1:14). So sind die „Seinen“ für Jeschua gerade die Kenner der Schrift. Gerade sie hatten ihr Leben dem Studium des gewaltigen Wortes des Allerhöchsten Gottes geweiht. Sie kannten sich im Hebräischen – in der Sprache der Schrift – aus und konnten die Schrift auslegen. Gerade zu ihnen ist Jeschua – der ihnen verheißene Messias Israels – gekommen. Und gerade sie haben Ihn nicht erkannt.

Noch eine erstaunliche Bemerkung aus der Geschichte: Polykrates, Bischof von Ephesus, schreibt an Papst Viktor I., den Bischof von Rom (189 - 199), einen Brief. In diesem Brief, so berichtet Eusebius aus Cäsarea, schreibt Polykrates folgendes: „Philippus, einer der zwölf Apostel, starb zu Hierapolis, und seine zwei Töchter, die in jungfräulichem Stande starben, ebenso eine andere Tochter von ihm, welche vom Heiligen Geiste erfüllt war, sind in Ephesus begraben. Ferner Johannes, der an der Brust des Herrn gelegen, welcher auch ein das hohepriesterliche Diadem tragender Priester war und Märtyrer und Rabbiner wurde, liegt in Ephesus begraben, ebenso Polykarpus, Bischof von Smyrna…“. Das ist ein bemerkenswerter Hinweis auf den Lieblingsschüler Jeschuas, Jochanan, der hier Hoherpriester genannt wird, welcher das Brustschild (= Brusttasche) trug (Exodus 39) und Rabbiner war. Er war es, der sich beim letzten Seder-Abend an die Brust des Herrn lehnte (Joh. 13:25). Gerade sein Evangelium, das sich grundlegend von den andern drei sogenannten synoptischen Evangelien unterscheidet (die aus einer und derselben Perspektive verfasst wurden), ist ein schwieriges theologisches Werk. Nach dieser historischen Quelle können wir annehmen, dass es eben um diesen Jochanan, den Schüler von Jeschua geht, der mit dem Hohenpriester bekannt war (Joh. 18:15). Ebenso können wir vermuten, dass ihm das Haus mit der Dienerin in Jerusalem gehörte, zu dem Simon Petrus, der aus dem Gefängnis befreit wurde, ging (Apg.12). Doch jetzt wird vor allem klar, warum Jochanan der Lieblingsschüler von Jeschua genannt wird. Weil er einer von den „Seinen“ war. Vielleicht sind so die Worte von Jeschua selbst besser zu verstehen: „... Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr gar nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (Math. 5:20).

Stellen Sie sich für einen Moment vor, dass die „Seinen“ – die Thora-Lehrer und die religiösen Leiter Israels – in Jeschua den verheißenen Messias doch erkannt und an ihn geglaubt hätten. Stellen Sie sich vor, dass moderne orthodoxe Juden an Jeschua glauben und in ihren Jeschiwas diesen Glauben lehren würden. Was dann? Wenn so etwas geschähe, könnten wir mit Schaul sagen: „… Ganz Israel wird gerettet werden“ (Röm. 11:26). Was müssen wir nun tun, damit sie in Jeschua das „fleischgewordene Wort“ erkennen, das „in sein Eigentum kam“? Wahrscheinlich müssen sie selber zunächst zu Jeschuas „Seinigen“ werden. Können Sie sich die Verantwortung vorstellen, welche die messianischen Gemeinden zu tragen haben? Ich bin überzeugt, dass die „messianische Gemeinde“ nicht bloß Synonym für jüdische Raumgestaltung, hebräische Lieder und Synagogen-Liturgie mit Heraustragen der Thora-Rollen ist. Das bedeutet eher die völlige Identifizierung jedes Einzelnen mit der Schrift. Das bedeutet Leben in der Schrift, zu den „Seinigen“ von Jeschua zu werden.

 

Verschieden sein und doch eins in Jeschua

Verschieden sein und doch eins in Jeschua - das ist nichts anderes als wahre Freiheit. Diesem Thema widmet sich Scha-ul in seinem „Brief an die Galater“: „Sie zwangen aber meinen heidnischen Begleiter Titus keineswegs, sich der Berit Milah (> Beschneidung) zu unterziehen. Tatsächlich kam die Frage nur auf, weil einige Männer, die vorgaben, Brüder zu sein, sich eingeschlichen hatten – sie hatten sich eingeschlichen, um die Freiheit auszuspionieren, die wir im Messias Jeschua haben, damit sie uns versklaven könnten. Nicht eine Minute lang gaben wir ihnen nach, damit die Wahrheit der Guten Nachricht für euch bewahrt bleibe“ (Gal. 2:3-5; David Stern). Leider ist es so, dass jahrhundertelang religiöse Nichtjuden, die von ihrer Denomination abhingen und nicht über ihren eigenen dogmatischen Schatten springen konnten, aus Juden mit aller Gewalt Christen gemacht haben. So tun es auch heutzutage einige moderne messianische Juden, die aus Nichtjuden Juden machen. Es entsteht eine messianische Proselytenmacherei (Gijur) mit entsprechenden Zertifikaten usw. In einigen messianischen Gemeinden erhalten die Nichtjuden jüdische Namen, und zu guter Letzt gibt es messianische Gemeinden, in denen es – trotz der ganzen Symbolik bis hin zur Beschneidung – keinen einzigen Juden mehr gibt. Frei zu sein ist bedeutend schwieriger als Sklave zu sein.

Vor kurzem rief mich eine gläubige nichtjüdische Frau vom anderen Ende der USA an und fragte, ob sie mit ihrem Mann zu Pessach in unsere Gemeinde kommen könnte, und zwar aus folgendem Grund: Sie hatte verstanden, dass man Pessach „richtig“ feiern muss, hatte aber in der Nähe keine messianische Gemeinde. Das hatte ihr offensichtlich einer von unsern Messianischen eingeredet. Ich gebe ehrlich zu, ich will nichts mit solchen Leuten zu tun haben. Ich habe sogar Angst vor solchen Leuten. Sie studieren die jüdische Symbolik und denken, dass das allein richtig sei. Doch – im Unterschied zu Scha-ul - unterstützen wir sie dabei. Vielleicht haben auch wir ein Problem mit der Freiheit in Jeschua? Nach unserer alten sündigen Natur möchten wir so gerne, dass alle unbedingt so sein sollen wie wir. Das erinnert mich unangenehm an das bekannte Lied aus meiner Vergangenheit: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“. Doch Jeschua ist zum Glück kein Kommunist und kein Sozialist. Er hat offenbar andere Grundsätze. Offensichtlich ist vielen unter uns das Ziel unseres Lebens nicht ganz klar.

In unserer verdorbenen Gesellschaft sind die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden eine Art Lackmuspapier, womit man die Qualität des Friedens an sich bestimmen kann. Im Mittelalter war das Erzählen von Jeschua das Vorrecht der katholischen Kirche, und sie präsentierten dies den ungebildeten Volksmassen durch Bilder. Die Künstler kannten aber die jüdischen Schriften nicht und konnten sie auch nicht verstehen, da sie verboten waren. Als Ergebnis erschien dann ein langhaariger Jesus Christus, der eher einem europäischen Ritter in Hauskleidung oder einem narzisstischen Wanderprediger glich, der nur damit beschäftigt war, seine schönen langen Haare zu kämmen. Vom jüdischen Messias ist auch nicht eine Spur übriggeblieben. Im Jahre 1879 verkündete Adolf Stoecker, der bekannte protestantische Kirchenmann in Berlin und Hofprediger des Kaiserhauses, lautstark: „Wenn wir uns wirklich entwickeln und unseren deutschen nationalen Charakter erhalten wollen, dann müssen wir unser Blut von einem jeglichen Tropfen jüdischen Blutes reinigen, das unser Blut vergiftet.“ Leider, leider war dieser niederträchtige Gedanke nicht nur die Idee von Stoecker allein. Er sprach laut aus, was in der Luft lag und die Meinung von vielen Vertretern der offiziellen Kirche Deutschlands war. Diese Vorstellung hatte natürlich auch Folgen für die jüdischen heiligen Schriften. Am 6. Mai 1939 wurde das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ auf der Wartburg in Eisenach (Deutschland) gegründet. Auf einer öffentlichen Arbeitstagung mit bis zu 600 Teilnehmern in der Lutherstadt Wittenberg wurde im Lutherhaus das neue „entjudete Volkstestament“ als „Botschaft Gottes“ vorgestellt. Schon die erste Ausgabe erreichte 200.000 Exemplare. Hier ist nicht mehr die Rede vom „Sohn Davids“, von der „Stadt Davids“, vom „jüdischen Land“ und von Jesu Stammbaum. Selbstverständlich hat sich das Christentum infolge all dieser Machenschaften so weit vom Judentum entfernt, dass nur einzelne eingeweihte Leute verstehen konnten, woher das Christentum überhaupt entstanden ist. Deswegen sieht ein Prediger in Kippa und Tallith in einer christlichen Kirche anomal aus.

Als symmetrische Antwort wurde die jüdische Auffassung herausgearbeitet, welche besonders deutlich von Pinchas Lapide, dem ehemaligen Professor der Bar-Ilan-Universität in Jerusalem, zum Ausdruck gebracht wurde: „Dass sich das Christentum selbst so darstellt, indem es sich als das ‚neue Israel‘ an Stelle des ‚alten Israel‘ bezeichnet, das wäre noch verzeihlich, - obwohl beide Bezeichnungen dem Neuen Testament fremd sind. Jedoch muss sich das Judentum so weit wie möglich dagegen wehren, dass das Christentum darauf beharrt, dass die Juden die Urheber seines kosmischen Dramas der Errettung sein sollten und die Bekehrung der Juden zu Christus die Voraussetzung für die Erlösung der Welt sein soll.“ Deswegen bedeutet für viele Juden – und zwar für die Nachfolger des rabbinischen Judentums - der Glaube an Jeschua Verrat am eigenen Volk und offener Zynismus.

 

Mit dem Aufkommen des messianischen Judentums auf die religiöse Bühne kam die Hoffnung auf die Überwindung der historischen Fehlentwicklungen der „beiden Herden“ auf. Auf uns – den messianischen Juden – liegt die Verantwortung, Jeschua, dem Messias Israels, seine wahre Identität zurückzugeben, und zwar durch eigene Veränderung. Auf uns liegt die Verantwortung, der ganzen Welt zu zeigen, dass die Bücher des Neuen Testaments in weit größerem Ausmaß als der Talmud dem Judentum gehören. Auf uns liegt die Verantwortung, dem Christentum zu zeigen, dass wir keine neue Denomination sind, die mit anderen kirchlichen Bewegungen konkurrieren und die Wahrheit für sich allein beanspruchen. Wir sind eine besondere Herde, welche das „Eigentum“ von Jeschua werden muss; ja, wir sind einfach dazu verpflichtet, diesen würdigen Platz in der gemeinsamen Herde einzunehmen, die von dem großen Hirten geführt wird.

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