Die ersten Christen waren Juden
Lauren Kendall
Über viele Jahrhunderte wurde die Mehrheit der Christen mit den Gedanken vertraut, dass es eine riesige Kluft zwischen dem Alten und dem Neuen Testament gibt, zwischen Gesetz und Gnade, zwischen Israel und der Kirche. Trotz der Tatsache, dass das Neue Testament sich durch einzigartige Vorteile unterscheidet, etwa durch das Opfer des Messias Jeschua, besteht weiterhin eine enge Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament. In der Tora ist die Gnade verwurzelt und das Neue Testament enthält die Gesetze und deren Einhaltung. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Israel und der Kirche, aber vieles stimmt überein. Wenn Sie sich zumindest einmal die Meinung der Menschen anhören, die behaupten, dass die Christen sich keine Gedanken über das Alte Testament machen sollen, dann rate ich Ihnen, sorgfältig über Folgendes nachzudenken: der Gründer unseres Glaubens, der Messias Jeschua, war selbst ein Jude (Sabra), von Grund auf ein Israeli. Er wurde von dem Stamm Juda geboren, ein Nachkomme Davids, und somit ein Nachkomme des jüdischen Königshauses. Er wurde am achten Tag beschnitten. Ihm wurde ein hebräischer Name gegeben – Jeschua. Er wurde in einer frommen jüdischen Familie erzogen. Er besuchte regelmäßig die Synagoge und das war sein Lebensstil (Lk. 4:16). Sein Leben war das Leben eines religiösen Juden, der die Tora einhält (Gal.4:4). Er konnte es sich leisten zu sagen: „Wer von euch überführt mich einer Sünde?”, denn er hatte nie gegen die Gebote der Tora gesündigt oder diese verletzt. Der Messias Jeschua lehrte, dass er kam, um die Tora zu erfüllen und nicht zu brechen (Mat.5:17-19).
Ein orthodoxer Jude, der Gelehrte Pinchas Lapid, sagte einmal: „Jesus hat in keiner Weise das Gesetz des Mose gebrochen oder jemanden auf dessen Verletzung gedrängt, – es ist eine völlig falsche Behauptung, dass er es jemals getan hat… In diesem Zusammenhang müssen Sie mir glauben, denn ich kenne den Talmud einigermaßen gut… Dieser Jesus war dem Gesetz so treu, genau so treu möchte ich ihm auch sein. Aber es scheint mir, dass Jesus dem Gesetz gegenüber treuer war, als ich – als orthodoxer Jude.“
Was ist mit den Aposteln, denn sie waren die ersten Christen? Heißt das, dass sie zum Christentum übergetreten sind und aufgehört haben, als Juden zu leben? Nein, so nicht! Die jüdischen Jünger des Herrn führten weiterhin eine jüdische Lebensweise über viele Jahrhunderte hinweg auch nach Seinem Tod. In der Apostelgeschichte sehen wir die Anfänge der messianisch-jüdischen Bewegung zusammen mit dem typischen Bild eines jüdischen Lebens. Die Apostel zum Beispiel haben so wie andere messianische Juden nicht nur regelmäßig den Tempel in Jerusalem besucht (Apg. 2:46, 03:1) sondern auch den Schabbat eingehalten sowie dessen Einschränkungen auf die traditionelle Lebensweise. Apostelgeschichte 1:12 spricht von dem "Schabbatweg". Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, spricht über die Tatsache, dass sie, als die Apostel von dem Ölberg nach Jerusalem zurückgekehrt sind, wo sie den in den Himmel aufgestiegenen Jeschua begleitet hatten, die Distanz eines "Schabbatwegs" gingen, die ca. über 2000 Ellen beträgt (etwa eine halbe Meile). Dies bezeugt die Ernsthaftigkeit der Beziehung der Schüler zum Schabbat in der Zeit der Apostelgeschichte - in den 60er Jahren n. Chr.. Die Apostel hielten auch jüdische Feiertage wie zum Beispiel Schawuot. Das zweite Kapitel der Apostelgeschichte beschreibt das überwältigende Ereignis, das an Schawuot passiert ist, als der Geist von Jeschua auf die Apostel ausgegossen wurde und sie mit dem Geist erfüllt wurden. Apostelgeschichte (10:9-16) besagt auch, dass Petrus, der Leiter der ersten messianischen Gemeinde, auch nach dem Tod von Jeschua die Gesetze zum koscheren Essen eingehalten hat.
Und was ist mit Paulus? Paulus muss wie ein Heide gelebt haben, denn er war ein Apostel der Heiden und unter den Juden lebte er als Jude, nicht wahr? Genau das ist falsch. Während seines ganzen Lebens zeigte dieser berühmte Rabbi aus Tarsus großen Respekt dem jüdischen Gesetz gegenüber. Paulus, der nach Meinung einiger das Judentum verließ, hat das Gelübde der Trennung angenommen, das das Tieropfer im Tempel von Jerusalem (Apg.18:18 und Num.6 :2-21) enthält. Paulus und seine Mitarbeiter haben weiterhin Pessach, das Fest der ungesäuerten Brote (Apg.20:6) sowie Schawuot gefeiert. Sie hielten Jom Kippur und andere jüdische Feiertage ein. Paulus war eine bedeutende Figur in der jüdischen Welt, sprach oft in Synagogen.
Als er sich vor Porzius Festus, dem neuen Herrscher der Schutzmacht Roms, verteidigte, sagte Paulus: "Weder gegen das Gesetz der Juden noch gegen den Tempel noch gegen den Kaiser habe ich in irgendeiner Weise gesündigt" (Apg.25: 8). Vor dem Hohen Rat, sagte Paulus, dass er ein Pharisäer sei (Apg.23: 6). Beachten Sie, dass Paulus nicht gesagt hat: "Ich war ein Pharisäer", sondern "ich bin ein Pharisäer." Dies hörten einige Pharisäer und stellten sich auf seine Seite und sagten: "Wir finden an diesem Menschen nichts Böses." (Apg. 23:9) Der christliche Prediger, H.L. Allison erinnert uns daran: "... wir können mit Recht davon ausgehen, dass Paulus während seiner Missionsarbeit in einer Weise gelebt hat, dass keine einzige Bemerkung von den Pharisäern gegen ihn hätte gemacht werden können." So lebte Paulus sein ganzes Leben. Am Ende seines Lebens im Dienst des Evangeliums, als er sich selbst vor den jüdischen Führern in Rom verteidigte, konnte Paulus in dieser Situation zurecht sagen: "... Ihr Brüder! Ich, der ich nichts gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche getan habe, bin gefangen aus Jerusalem in die Hände der Römer überliefert worden." (Apg.28: 17).
Was hat dieser berühmte Rabbi aus Tarsus in seinem Leben getan? Er lehrte andere messianische Juden. Im 1. Korinther betont Paulus, dass messianische Juden eine jüdische Lebensweise geführt haben. "Nur jeder soll so handeln, wie Gott es einem gegeben hat, und jeder wie der Herr einen berufen hat. So befehle ich es in allen Kirchen. Berufen ist der beschnittene (im Original - "werde nicht unbeschnitten"), der unbeschnittene soll nicht beschnitten werden ... Jeder soll in der selben Berufung bleiben zu der er berufen wurde "(1Kor.7 :17-20). Bedeutet es, dass ein beschnittener Mann unbeschnitten werden soll?" Dies bedeutet, dass er weiterhin ein jüdisches Leben führen soll, das auf Gottes Gesetzen beruht.
Für die christliche Welt ist es typisch, das zu vergessen: was wir die "Alte Kirche" oder "Christentum des ersten Jahrhunderts" nennen, war seit seiner Gründung die jüdische Bewegung gewesen. Die Frage im ersten Jahrhundert war nicht, welchen Teil des Mosaischen Gesetzes wir weglassen müssen, oder ob ein Heide an den jüdischen Messias glauben kann ohne Rückgriff auf das Judentum und auf die Ausführung aller jüdischen Gesetze. Es gab keinen Zweifel daran, dass messianische Juden weiterhin ein jüdisches Leben wegen der Tora führen sollten. Im Verständnis der damaligen Gläubigen wurde es für selbstverständlich gehalten, dass die messianischen Juden die Forderungen der Tora wie bisher zu erfüllen hatten (Apg.21 :20-26). Auf dem Ersten Konzil in Jerusalem wurde diese Frage diskutiert - die Beziehung der Heiden zur Tora und welchen Teil davon sie ausführen müssen (Apg 15 :1-29).
Obwohl der Brief des Paulus an die Gemeinde in Galatien zunächst dieser Aussage zu widersprechen scheint, ist es aber nicht so. In diesem Brief lehrt Paulus nicht, dass Gottes unverdienter Segen (Gnade) dem Gesetz widerspricht. "Darum ist das Gesetz gegen die Verheißungen Gottes? Auf keinen Fall!" (Gal.3: 21). Um diese recht komplexe Botschaft zu verstehen, müssen wir den von Paulus oft gebrauchten Begriff "Gesetz" verstehen, der zu einer Reihe von unterschiedlichen Konzepten verweist. Mir ist es gelungen, neun verschiedene Bedeutungen des Wortes "Gesetz" im Neuen Testament zu finden. Es kann das Gesetz des Mose oder Pentateuch von Moses und den gesamten Tanach (Tora, Propheten und Schriften) bedeuten. Das Wort "Gesetz" kann auch auf ein bestimmtes biblisches Gebot bezogen werden, ein "Prinzip" oder eine "Gesetzlichkeit" - es hängt alles vom Kontext ab, in dem dieses Wort verwendet wird. Im Galaterbrief verwendet Paulus den Begriff "Gesetz" als Synonym von "Fleisch" oder "Taten", das heißt ihre eigenen Anstrengungen. Paulus greift die Idee der "Gesetzlichkeit" wegen der Vorstellung auf, dass mit den eigenen Bemühungen und Leistungen eine Person Rettung vor Gott verdienen könnte.
Viele Juden im ersten Jahrhundert erfassten die Grundbedeutung der wahren Tora. Das Einhalten der wunderbaren Tora wendeten sie in einem System von verbindlichen Taten an und verwandelten diese in dem Sinn von eigenen Bemühungen oder Leistungen. Die Idee der Einhaltung der Gesetze Gottes wurde zum Mittel der Suche – aus eigener Kraft und zum eigenem Verdienst – nach der richtigen Position vor Gottes Angesicht. Dieser falsche gesetzliche Ansatz zur Frage der Rettung verbreitete sich auch in einigen Strömungen der messianischen Bewegung. Vor allem die gläubigen Heiden in Galatien hatten eine fehlerhafte Einstellung übernommen; sie glaubten, dass ihre eigenen Bemühungen und Aktionen zur Rettung führen und/oder zu einer höheren Ebene der Spiritualität. Und genau gegen diese Gesetzlichkeit hat Paulus so stark gekämpft, nicht mit Gottes heiligen Gesetzen. Seine Kritik an der Gesetzlichkeit sollte nicht als ein Angriff auf die messianischen Juden betrachtet werden, die die biblischen Gebote aus Liebe zu Gott und dem Wunsch, Ihm zu gehorchen, befolgen.
Ein anderer christlicher Gelehrter, Alan Cole, stellte fest, dass "Paulus die Gemeinden der Heiden nie dazu zwang, sich wie die Juden zu verhalten ... aber es ist auch wahr, dass er nicht wollte, dass die jüdischen Gemeinden sich so wie die heidnischen Gläubigen verhalten. Er hat nie gesagt, dass sie nicht beschnitten werden sollten, dem Gesetz gehorchen oder die Feiertage feiern sollten. Das einzige, worauf er bestand, ist, dass all dies nichts mit der Gabe der Erlösung zu tun hat."
Über die Position von Jeschua sowie die Ausführung von Paulus und der anderen Apostel zum Gesetz sind weitere Beweise in den Schriften des Josephus zu finden, eines jüdischer Historikers des ersten Jahrhunderts. Im neunten Kapitel des 20. Buches, "Jüdische Altertümer", beschreibt Josephus den Tod des Jakobus, des Bruders vom Messias Jeschua. Jakobus - ein Nachkomme von König David und Führer der Jerusalemer Gemeinde – hatte den Zorn der Hohenpriester Israels geweckt, was zu seiner Steinigung geführt hat. Aber das jüdische Volk liebte Jakobus wegen seiner Hingabe an Gott und seines göttlichen Lebens so sehr, dass sie sich bei dem neuen römischen Statthalter darüber beschwerten und dieser entließ den Priester aus seinem Amt!
Justin der Märtyrer, ein angesehener christlicher Leiter des zweiten Jahrhunderts, erwähnt in seinem Buch "Dialog mit dem Juden Tryphon" die Tatsache, dass in der Mitte des zweiten Jahrhunderts es messianische Juden gab, die weiterhin nach jüdischer Sitte lebten, und dies hinderte sie nicht daran, dem Messias Jeschua zu folgen. Um zu erklären, dass manche Christen die Einhaltung der jüdischen Bräuche verurteilten, sagt der Autor, dass seiner Meinung nach, „wenn jemand die Festlegung die von Moses gegeben wurde, einhalten will, … zusammen mit seiner Hoffnung auf den Messias … und mit den Christen und den Gläubigen leben will, ... dann denke ich, sollten wir uns mit ihnen vereinigen und mit ihnen Gemeinschaft haben, wie mit Verwandten und Brüdern.“
Irenäus, ein angesehener Führer der Kirche des zweiten Jahrhunderts, ein Lehrer, der von den Aposteln gelehrt wurde – er war aufgrund dieser Tatsachen mit ihrem Leben bekannt – schrieb Folgendes über sie: "Aber sie selbst ... haben die alten Bräuche der Apostel weitergeführt … So haben die Apostel gehandelt... ein makelloses Wirken gemäß dem Bund des mosaischen Gesetzes" (Gegen die Häresien).
Die meisten Menschen sind sich dessen nicht bewusst, dass die messianisch-jüdische Bewegung nicht ein paar Jahrhunderte nach der Ankunft Jeschuas unterbrochen wurde. Die Apostel wurden Christen, aber nicht in dem Sinne, dass sie ihre jüdische Identität, ihren Lebensstil und das geistliche Erbe abgelehnt haben. Sie wurden Christen in dem Sinne, dass sie dem jüdischen Messias nachgefolgt sind. Um das Jahr 400 sagte Epiphanius Folgendes: "Aber eigentlich sind sie Juden geblieben, und niemand anders. Denn sie nutzen nicht nur das Neue Testament, sondern auch das Alte, wie die Juden, denn sowohl das Gesetz als auch die Propheten und die Schriften wurden in der Bibel der Juden genannt und diese werden von ihnen nicht abgelehnt ... Sie leben unter Juden zur Einhaltung des Gesetzes ... Sie glauben an den Messias, weil sie auch an die Auferstehung der Toten glauben ... Sie verkünden einen Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Sie verfügen über Kenntnisse der hebräischen Sprache ... denn das ganze Gesetz und die Propheten ... werden von ihnen in Hebräisch gelesen ... sie stimmen den Juden nicht zu wegen ihres Glaubens an den Messias; mit Christen sind sie nicht einverstanden, weil sie nach dem Gesetz auf die Beschneidung, den Schabbat und andere Dinge angewiesen sind "("Panarion").
Vor einigen Jahren war ich in Israel und besuchte eine Kirche in Kana, eine antike Stadt in Galiläa, in der Nähe von Nazareth, in der Jeschua sein erstes Wunder vollbracht hat; er hatte Wasser in Wein verwandelt. Als Archäologen diese Stelle Schicht für Schicht freigelegt hatten, fanden sie die Überreste von immer älteren Gebäuden, und in der untersten Schicht fanden sie Überreste des ältesten Gebäudes an diesem Ort, eine messianische Synagoge des zweiten Jahrhunderts n. Ch..
Ich freue mich darüber, dass nach dem Wort Gottes, wenn der Messias Jeschua im zukünftigen tausendjährigen Reich von Jerusalem regieren wird, alle Nationen Sukkot (Laubhüttenfest) (Sach.14 :16-19), den Schabbat und die Neumonde (Jes.66: 23) feiern werden. Nachdem das ganze Volk Gottes dies viele Jahrhunderte lang vor der Ankunft des Messias eingehalten hat, werden sie von den messianischen Juden nach dem Kommen von Jeschua im Tausendjährigen Königreich eingehalten werden; was ist dann falsch daran, wenn wir es schon heute einhalten?
In Anbetracht dessen möchte ich meine christlichen Brüder und andere wie mich, messianische Juden, dazu aufrufen, auf keinen herabzuschauen, der die untrennbare Verbundenheit der jüdischen Gesetze und Bräuche, die auf der Bibel gegründet sind, betont. Ich denke, es ist nützlicher für uns, die Beziehung zwischen den beiden Testamenten zu betonen, so wie die Apostel es taten, und nicht auf der radikalen Trennung des Alten und des Neuen Testaments zu bestehen, so wie es der nichtjüdische Teil der Kirche vor vielen Jahrhunderten getan hat.